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Montag, 30. Mai 2016

Anlandungen in Ostsizilien: Wer ankommt, ist Zeuge eines fortdauernden Massensterbens

Die gerade zu Ende gegangene Woche wird vom Fernsehen und den Tageszeitungen als „zu vergessen“ bezeichnet; dort folgen aufeinander Daten und Zahlen der angelandeten Migrant*innen, der Toten und der Verschollenen. Wir fragen uns, wie kann man dieses Geschehen weiterhin ignorieren statt sich an die tausenden von Geflüchteten zu erinnern, die seit Jahren bei dem Versuch, Europa zu erreichen, sterben. In weniger als 7 Tagen hat es drei Schiffbrüche mit 70 bestätigten Opfern, aber mehr als 700 Verschollenen gegeben; und doch wird die Möglichkeit, sichere Kanäle für Flüchtende einzurichten, immer noch nicht in Betracht gezogen. Man empfindet wirklich Wut und Scham darüber, zu einer so inhumanen Gemeinschaft zu gehören, die nur damit beschäftigt ist, die eigenen Interessen und die Grenzen der Festung Europa zu schützen.


Foto: Lucia Borghi

Im Laufe des Samstags sind in Catania 884 Migrant*innen an Bord der Vos Thalassa angekommen, einem Schlepper, der entschieden zu klein ist, um fast tausend Menschen unter würdigen Umständen zu transportieren. Aus „Sicherheitsgründen“ wurden wir gezwungen, die Anlandung zusammen mit den Journalist*innen von einem weit entfernt gelegenen Standort aus zu verfolgen; aber die geringen Ausmaße des Schleppers sind uns nicht entgangen und auch nicht die Schreie, die aus seinem Inneren zu hören waren. Wie die Präfektur später bestätigte, gab es an Bord des Schiffes tatsächlich eine große Aufregung: Die Migrant*innen, wortwörtlich eingepfercht, drängten auf den Landungssteg, kaum dass Land in Sicht war und zeigten lautstark ihre berechtigte Unduldsamkeit. Unter ihnen sind ca. 120 Frauen und wie es scheint, ebenso viele unbegleitete Minderjährige. Sie sind von Libyen aus auf vier verschiedenen Schlauchbooten und einem Kahn aufgebrochen. Sie kommen aus Eritrea, der Elfenbeinküste, Mali, Bangladesch und Gambia, und einige haben vier Tage auf dem Meer verbracht, bevor sie gerettet wurden. Sie erreichten den Hafen im Zustand äußerster Erschöpfung; von ferne haben wir die sofortige Verlegung der Schwangeren gesehen und die Überleitung in das Zelt zur Erstidentifikation. Mit Ausnahme der unbegleiteten Minderjährigen werden die heute angekommenen Migrant*innen mit 18 Bussen, die auf dem Kai standen, in Einrichtungen in Norditalien geleitet. Wir fragen uns, ob ein aufmerksames Screening der besonders Schutzbedürftigen durchgeführt wurde; ob man die, die nach tausenden Kilometern ankommen, mit Kleidung zum Wechseln ausgestattet hat; ob die anwesenden Organisationen die vom Gesetz vorgesehenen Informationen an diejenigen weitergeben konnten, die kaum realisiert haben, dass sie überlebt haben und doch aufmerksam auf Fragen antworten müssen, bei denen ihre Zukunft auf dem Spiel steht. Diese Woche haben wir andere Migrant*innen aus Eritrea außerhalb des CARA* von Mineo getroffen, in das sie nach den letzten Anlandungen gebracht worden waren: Gezwungen, aus der Unterdrückung durch eine Militärdiktatur zu flüchten, finden sie sich in Europa in einer Falle wieder, in einem System, das sie kategorisiert und kontrolliert mit Regierungstechniken, die sehr weit entfernt sind von wirklich demokratischen. „Wir sind hierher verlegt worden. Sie haben uns die Fingerabdrücke ohne Gewaltanwendung abgenommen; aber dann haben wir wirklich nicht gut verstanden, ob wir das Recht haben zu gehen oder nicht. Wir haben nicht einmal verstanden, ob wir in Italien bleiben können oder ob wir zwangsläufig an einen Ort verlegt werden müssen, den wir nicht kennen.“ Das sind einige Worte von B., einem jungen Wirtschaftsstudenten, der wie viele andere vor der Sklaverei des Militärdienstes auf Lebenszeit geflohen ist, der wie ein Gewicht auf allen jungen Eritreern lastet. Wie er warten viele seiner Reisegefährten im CARA* darauf, das wirkliche Ziel kennenzulernen und vor allem ihre eigenen Rechte.
Am Samstag sind weitere Migrant*innen aus Eritrea und Somalia in zwei Anlandungen im Hafen von Augusta angekommen; ausnahmsweise ereigneten sich diese nur wenige Stunden nacheinander. Eine erste Gruppe mit 515 Personen, vor allem aus dem Afrika südlich der Sahara, ist in vier verschiedenen Schlauchbooten von der libyschen Küste aufgebrochen; ein Schiff der maltesischen Marine hat weitere 225 Geflüchtete gerettet, die von der ägyptischen Küste aufgebrochen waren. Für die Letzteren scheint die Reise, mit einer Dauer von rund neun Tagen, sehr lang und ermüdend gewesen zu sein. Wir können uns nur aus zukünftigen Erzählungen vorstellen und anhören, unter welch schrecklichen Bedingungen Überlebende und Flüchtende vor Misshandlung und Folter gegen den sicheren Tod gekämpft haben.
Die immer schwierigeren physischen und psychischen Bedingungen, die von Ankommenden berichtet werden, sind wirklich das fleischgewordene Zeugnis der mit Grausamkeit verübten Gewalttaten gegenüber denen, die flüchten. Das Schweigen, die leeren Blicke und die Worte, die beginnen, wieder aufzutauchen, werden zum direkten Beweis der täglichen Greuel, die sie auf dem Meer durchleben, aber nicht nur dort. Viele der 657 Migrant*innen, die am Samstag in Pozzallo angekommen sind, haben einige schreckliche Augenblicke ihrer Überfahrt rekonstruiert, als vor ihren Augen Freunde, Verwandte, Kinder und Reisegefährten vom Meer verschluckt wurden. Erzählungen, die von hunderten von Verschollenen sprechen, von Toten und von Verzweiflung, angesichts derer gleichgültiges Verhalten wirklich unmenschlich ist. Aufgrund ihres außergewöhnlich kritischen Gesundheitszustands sind am Vorabend 47 Personen mit einem Schnellboot an Land gebracht und in die Krankenhäuser Ragusas, Modicas und Vittorias eingeliefert worden. Häufig liegen noch die Fälle von Krätze vor und ca. 500 Personen wurden verlegt, während nur noch 270 im Hotspot von Pozzallo zu sein scheinen. Kontrollen, Identifikationen und Untersuchungen folgen aufeinander und der repressive Zugriff auf diejenigen, die gezwungen sind zu fliehen und jeden Tag zu sterben, schreitet in vollem Rhythmus voran. Massensterben, die wir vorsätzlich ignorieren wollen, damit wir uns nicht als Komplizen wiedererkennen.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia

*CARA - Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende

Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber